Luc Ferrari – Jetzt
release date : 2011
label : Wergo
Collection : ZKM MIlestones
Format : triple CD, 76-page booklet

JETZT
oder wahrscheinlich ist dies mein Alltag
in der Verwirrung der Orte und der Augenblicke

In 1981/1982 the French composer Luc Ferrari produced the radio play “Jetzt – oder wahrscheinlich ist dies mein Alltag, in der Verwirrung der Orte und der Augenblicke” [“NOW – or Probably This Is My Everyday Life in the Confusion of Places and Moments”] with the Hessischer Rundfunk. Like other earlier radio plays of Ferrari, “JETZT” as “radio play on the radio play” is a special case between music, radiophonic art and narrative radio play.

The dialogues between Luc Ferrari and his wife Brunhild Ferrari, between German and French, between the places of origin of the used recordings as well as the different process stages of the radio play are unique and characteristic. Ferrari recorded everything live on tape – his arrival at the airport of Frankfurt, the setting up of the microphone, the conversations about how to proceed and about the content of the radio play – and interwove everything with recordings of the musical quartet Vivant Quartet de Narbonne. The autobiographical traces are artistically, playfully and cleverly interspersed with profound philosophical questions.

In its series ZKM milestones, the ZKM Institute for Music and Acoustics is publishing Ferrari’s radio play “JETZT” at WERGO in full on CD for the first time. The accompanying CD of materials includes audio documents that shed light on his artistic work in very different ways: The excerpts from a lecture by Luc Ferrari on his view of the radio play constitute a presentation resembling a radio play. “Ferrari (r)écouté”, a competition organized by the ZKM in cooperation with hr2-kultur, presents new works based on the “JETZT” materials by Tiziana Bertoncini, Antje Vo­winckel, Frank Niehusmann, David Fenech, and Neele Hülcker.

Tracklisting :

CD1.
01. Générique
02. Préludes (Aéroport)
03. Presque rien
04. La gare
05. L’Ane d’or
06. Jeu des interviews
07. Promenade symphonique
08. La chanson de la forêt

CD2.
01. Interview n1 (Henry)
02. La Cantine
03. La folie
04. C’est la fin

CD3.
01. Tiziana Bertoncini – Nur sand
02. Antje Vowinckel – Ferrari entre
03. Frank Niehusmann – Scuderia Ferrari auf der Allee der Kosmonauten
04. David Fenech – Jetzt Melodies
05. Neele Hülcker – Mon petit Jetzt
06. Zur Gattung Horspiel
07. Kommentar zu JETZT
08. Uber unbergrentze Zeit

composers :

  • Luc Ferrari
  • Frank Niehusmann
  • Tiziana Bertoncini
  • David Fenech
  • Neele Hülcker
  • Antje Vowinckel

interpreters :

  • Brunhild Ferrari
  • Vivant Quartet de Narbonne
    (Richard Breton: guitar, Jules Calmettes: flute and saxophone, Henry Fourès: piano and composer, Alain Joule: percussion)

booklet writers :

  • Hermann Naber
  • Ludger Bruemmer
  • Rudolf Frisius
  • Julia Gerlach

In der Reihe “ZKM milestones” erscheint bei Wergo eines der zentralen Hörstücke des französischen Komponisten Luc Ferrari in einer vorbildlichen 3-CD-Edition. Um es vorweg zu nehmen: Diese von Wergo veröffentlichte, in jeglicher Hinsicht vorbildliche und exzellente CD-Edition ist eine sehr spezielle Angelegenheit. Sie richtet sich vor allem an Hörer, die sich für das experimentelle Hörspiele begeistern, wie es unter dem Begriff der ‚akustischen Kunst‘ seit einigen Jahrzehnten zumeist von den Rundfunkanstalten der ARD produziert wird. Konkreter Gegenstand ist eine Arbeit des Franzosen Luc Ferrari (1929–2005), die bei der ersten Begegnung genauso sperrig erscheinen mag wie ihr langer Titel: ‘JETZT – oder wahrscheinlich ist dies mein Alltag, in der Verwirrung der Orte und der Augenblicke’. Ferraris musikhistorischer Standort ist insofern bedeutsam, als der Komponist vor allem – aber nicht ausschließlich – in den zwischen 1967 und 1989 entstandenen Stücken seiner ‚Presque rien‘-Reihe eine betont anti-elitäre Avantgardemusik anstrebte: eine Musik, zu deren Entstehung auch der musikalisch ungebildete Dilettant durch Zugriff auf das jedermann zugängliche Produktionsmittel Tonband beitragen sollte, indem er – analog zur zeitgleich aufkommenden Polaroid-Fotografie – akustische ‚Schnappschüsse‘ aus Alltag und Lebenswelt sammelte.
Wie andere Hörstücke Ferraris aus dieser Zeit wendet sich auch die 1981/82 beim Hessischen Rundfunk produzierte Arbeit ‘JETZT’ in diese Richtung; dabei überschreitet sie jedoch die einfache Dokumentation der Klänge von Orten und Situationen, indem sie ganz bewusst die Genregrenzen negiert und sich permanent zwischen Musik, radiophoner Kunst, narrativem Hörspiel und dokumentarischem Mitschnitt bewegt. Ferrari ist hier nicht nur Chronist des alltäglichen Geschehens, sondern er tritt zugleich in einen artifiziellen Diskurs ein, der es dem Hörer erlaubt, einer künstlerisch artikulierten Reflexion über Bedingungen und Prozesse der Entstehung von Kunst – ihr Scheitern inbegriffen – im Alltag des Künstlers beizuwohnen. Von Anfang an schnitt Ferrari alles auf Tonband mit: seine Ankunft am Frankfurter Flughafen, die Einrichtung des Mikrophons, die Gespräche über Vorgehensweise und Inhalte des geplanten Hörspiels sowie die mit seiner Ehefrau Brunhild Ferrari in deutscher und französischer Sprache geführten Diskussionen, und verwob diese Elemente mit musikalischen Einspielungen des Quartetts Vivant Quartet de Narbonne. Entstanden ist dabei eine gleichsam aufgebrochene Geschichte: eine kunstvolle Montage aus Klangmaterial unterschiedlichster Herkunft, die sich zu einem bisweilen verwirrenden, immer aber assoziationsreichen Geflecht fügt, in das auf spielerische Weise autobiografische Spuren und philosophische Fragestellungen eingeflochten sind.
Die in der Reihe ‚ZKM milestones‘ erschienene Veröffentlichung macht Ferraris Arbeit erstmals in ihrer ganzen Länge von knapp 124 Minuten verfügbar. Zugleich fügt sie dem Stück im üppig ausgestatteten und reich bebilderten 76-seitigen Booklet eine kommentierende Schicht aus hochwertigen Essays hinzu, die sich – von Autorinnen und Autoren unterschiedlicher künstlerischer und wissenschaftlicher Provenienz (Ludger Brümmer, Rudolf Frisius, Julia Gerlach und Hermann Naber) verfasst – sich dem Hörstück aus unterschiedlichen Perspektiven nähern. Darüber hinaus beinhaltet die Edition eine zweigeteilte Material-CD mit künstlerischen Kommentaren zu Ferraris ‘JETZT’: Da sind einerseits Ausschnitte aus einem 2000 gehaltenen Vortrag des Komponisten über seine Auffassung vom Hörspiel, die eine weitere reflexive Ebene zur eigenen künstlerischen Arbeit bieten; da sind aber auch – vom ZKM in Kooperation mit hr2-kultur 2011 über die Ausschreibung ‚Ferrari (r)écouté‘ angeregt – neue, aus dem ursprünglichen ‘JETZT’-Material gefertigte radiophone Kompositionen von Tiziana Bertoncini, Antje Vowinckel, Frank Niehusmann, David Fenech und Neele Hülcker, die sehr unterschiedliche Wege aufzeigen, wie eine jüngere Generation sich den Klangbausteinen Ferraris nähert und sie wiederum, unter Verwendung völlig andere Verfahren, zu akustischer Kunst formt.

Stefan Drees, Klassik.com , March 2012 ( link )